„Die Menschen bauen keine Dome mehr“

Heute verwalten wir das Erbe einer Geschichte, die in Europa vom Christentum geprägt ist, das von hier aus die ganze Welt teils bewusst, teils unbewusst mit dem übernatürlichen Sauerteig des Evangeliums in Berührung gebracht hat und so menschliche Kultur zu höchster Blüte und fortschreitender Vollendung führen konnte. Die Frohbotschaft von der Liebe Gottes und der Erlösung von der Sünde durch Jesus Christus ist ein Same, der, in die Herzen der Menschen und der Zivilisation gesenkt, nicht in äußeren, gewalttätigen Revolutionen den Lauf der Geschichte bestimmt, jedoch durch ihre innere, übermenschliche Kraft trotz aller Bedrohung, die ihr widerfährt, leise und fast unbemerkt wirkt, - wie alles, was von Gott selbst hervorgeht!
Wir stehen in unserer Geschichte am Scheideweg. Wie jede Generation vor uns müssen auch wir uns entscheiden: Wollen wir eine Welt, die nur vom menschlichen oder gar sündhaften Willen bestimmt wird, oder öffnen wir uns der wahren Wirklichkeit, die nur in der Liebe zu Gott geschaut werden kann, in der allein aber die Schöpfung und wir alle unser Ziel und unsere Vollendung in unserer wahren Bestimmung zur Liebe finden können?
Jeder Mensch, aber auch jedes Zeitalter muss sich immer wieder dieser Frage stellen. Wie für alle Generationen vor uns geht es auch heute darum, ob wir die Gnade Gottes, die uns in Christus erschienen ist, dankbar annehmen und in Seiner Nachfolge auch reiche Früchte bringen lassen, oder ob wir uns mehr und mehr von Christus und Seiner Liebe als Einzelne oder als Gesellschaft abwenden und uns so in menschlichem Hochmut verlieren, der letztlich alles Leben, alle wahre Freude und Güte, die Gott in Seiner Schöpfung verwirklicht sehen will, untergräbt und so die Menschheit immer mehr ins satanische Gegenteil der Finsternis, der Hoffnungslosigkeit und des Hasses führt, wie wir es besonders auch heute immer wieder deutlich vor Augen gestellt bekommen!
Doch wo liegt der Kern des Glanzes der europäischen Kultur? Der eigentliche Ursprung des kulturellen Erbes, das wir verwalten, war immer die Liturgie, die letztlich direkt oder indirekt die ganze christliche Welt geprägt und zu blühendem Leben gebracht hat. Wo ein Volk sich freudig dem Dienste Gottes hingibt, hat das nicht nur Auswirkungen auf das menschliche Zusammenleben, sondern auf die künstlerische, wissenschaftliche, kulturelle, technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung von Generationen. Wo der Gottesdienst Mittelpunkt des Lebens ist, befruchtet er wie von selbst auch alle anderen Bereiche menschlichen Daseins.
Zeichen des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe unserer Vorfahren finden wir viele. Bis heute werden in vielen Bereichen auch von Fernstehenden und Ungläubigen die Denkmäler einer Jahrhunderte und Jahrtausende alten christlichen Kultur mit Bewunderung bestaunt und gepriesen. Was wäre Europa ohne seine Kirchen und Dome, ohne seine Klöster und ihr religiöses und wissenschaftliches Erbe, ohne die überkommene religiöse Kunst und Musik, ohne die christliche Herzensbildung, welche - trotz des vielen und beklagenswerten menschlichen Versagens und Verdrängens - der Kultur des Abendlandes den Stempel von Glaube, Hoffnung und Liebe eingeprägt hat, auch wenn diese Prägung immer wieder verleugnet, verwischt oder durch Lauheit oder Gewalt ausgelöscht zu werden drohte.
Nach einem Besuch der Kathedrale von Chartres in Frankreich im Jahr 1924 schrieb der Dichter Stefan Zweig (1881-1942) tief beeindruckt: „Nur den Glauben wollten sie verewigen, die diese Kathedrale aufrichteten mitten im niedren Land, in gestaltetem Stein ihren frommen Willen bewahren über die Zeit: ehrfürchtig spürt man hier den ‚Geist der Gotik’, das Jahrhundert des Glaubens und der Geduld, ein Jahrhundert, das nicht wiederkehrt. Denn nie werden solche Werke in unserer Welt wieder entstehen, die mit anderen Maßen die Stunden zählt und hinlebt in anderen Geschwindigkeiten: die Menschen bauen keine Dome mehr.
Die Menschen bauen keine Dome mehr: wie Armut fühlt man vorerst unsere Zeit in der Heimkehr von solcher dauerhaften Gestalt“ (Stefan Zweig, Reisen in Europa, Kap. 6).
Es geht hier nicht um die Gestalt dieses Dichters, auch nicht um die Frage, ob die Menschen im Zeitalter der gotischen Kathedralen besser waren als diejenigen in den Jahrhunderten davor oder danach, das weiß nur Gott allein. Jedes Jahrhundert hat seine eigenen Gegebenheiten, mit denen es umgehen muss, seine eigenen Schwierigkeiten, die es zu bewältigen gilt. Aber doch fühlen auch wir, wenn wir die „Kunst“ des „Kirchenbaus“ unserer Zeit betrachten, uns mit dem Dichter an eine große geistige Armut erinnert, die sich unserer Zeit bemächtigt hat, sofern überhaupt noch irgendwo Kirchen errichtet und nicht vielmehr die bestehenden geschlossen, zweckentfremdet oder abgerissen werden.
Wir leben heute leider in einer Zeit, welche dem Ideal der Kunst, das Schöne, Wahre und Gute zu verherrlichen, fast gänzlich eine Absage erteilt hat. So tritt angebliche „Kunst“ immer mehr in der Gestalt einer Fratze des Hässlichen, des Seelenlosen, Sinnlosen, des Gestaltlosen oder des Albernen uns gegenüber. Die heutige Kunst ist angeblich „frei“ geworden, aber indem sie sich frei gemacht hat von der Liebe zum Dienst an Gott, die sie in all den christlichen Jahrhunderten beflügelt und zu so Großartigem befähigt hat (wobei die Künstler ursprünglich meist sogar auf die Nennung ihres Namens verzichtet haben, um das eigene Ich im Dienst an Gott völlig in den Hintergrund treten zu lassen), wurde sie in Wirklichkeit leer und aussagelos. Wie auch alles menschliche Leben leer und sinnlos wird, wenn es nicht die Freiheit für Gott und Seine Güte einsetzt, sondern nur eine angebliche Freiheit von dieser transzendenten, nämlich menschliche Vernunft überschreitenden, Güte anstrebt!
Leider ist selbst angeblich „religiöse“ Kunst heute von diesen Tendenzen oft nicht unberührt geblieben. In diesem Verschwinden der Glaubenskraft heute, da die Zahl der Konfessionslosen in manchen einst christlichen Ländern schon größer geworden ist als die der Christen (vgl. die Lage in den Niederlanden, Großbritannien, Ostdeutschland, aber auch in vielen Großstädten Europas) erinnert uns aber der Reichtum der religiösen Kunst und Kultur vergangener Jahrhunderte wie von Ferne und leise an die großen sittlichen und übernatürlichen Ideale der Gottes- und Nächstenliebe, die viele christliche Generationen prägten, die viele heute aber kaum mehr kennen.
Wir wissen diesen Reichtum heute zwar teilweise noch zu schätzen, wir haben „Denkmalschutz“ und Geld, sie zu erhalten. Aber genügt ein nur äußerliches Verwalten und Erhalten eines Erbes? Muss es nicht auch innerlich mit Leben erfüllt werden, wollen die früheren Werke der Gottesverehrung nicht auch unsere Herzen ergreifen und zur Vollendung des Guten auffordern?
Die Not unserer Zeit besteht doch darin, dass man, obwohl man die Bauten und Bilder der Gotteshäuser zwar mindestens noch teilweise erhält, den Gottesdienst selbst aber mehr oder weniger aus den Kirchen verbannt hat! Die Jahrtausende alte Liturgie, welche die christliche Kultur geprägt hat, wird heute von den kirchlichen Autoritäten selbst wie ein gefährliches Scheusal verachtet, aus den Kirchen ausgeschlossen und verboten.
Man spricht zwar viel von angeblicher Barmherzigkeit, kennt aber oft keine Gnade gegenüber dem christlichen Gottesdienst?
Hat der Hochmut einer angeblich „modernen“ Geisteshaltung Glaube, Hoffnung und Liebe untergraben und zerstört? Wo muss „christlicher Denkmalschutz“ heute wirklich ansetzen?
Sicher nicht in Äußerlichkeiten, sondern in der Erneuerung der Herzen. Wir können zwar über die Situation in Kirche und Welt klagen und müssen oft auch entschieden unsere Stimme erheben. Aber beginnen können wir nur bei uns selbst!
Zwar nicht im Vertrauen auf die eigene Stärke, sondern auf die Hilfe Gottes, können wir in unserem Herzen und in unserem Umfeld dafür sorgen, dass der Zerstörung von Glaube, Hoffnung und Liebe Einhalt geboten wird!
Die Kirche Jesu Christi drohte seit den Tagen der Apostel von den Mächten des Bösen überwunden zu werden. Aber am Ende kann immer nur das Gute über das Böse den Triumph davon tragen, weil alles Böse niemals die Wahrheit an Seiner Seite hat: „Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen!“ (Mt. 16,18), hat Jesus so auch recht klar Seiner Kirche verheißen.
Er hat diese Seine Kirche auf Petrus, den Fels, gebaut (vgl. ebd.), aber nur jemand, welcher die Nachfolge Petri und die Treue zu Christus auch ernst nimmt, der kann auch selbst Fels, Stellvertreter Christi und in Wahrheit Nachfolger Petri sein. Der eigentliche Fels, an den sich die Kirche hält und auf dem sie in Festigkeit ruht, ist ja Christus (vgl. 1Kor.10,4f.), das wurde schon seit den ersten Zeiten der Kirche immer so gesehen, und Petrus ist immer nur Stellvertreter Christi. Nur dadurch, dass er die Stellvertretung Christi wirklich wahrnimmt und mit der Stimme Christi spricht, können ihn die Schafe auch als ihren Hirten erkennen. „Einem Fremden aber folgen sie nicht. Sie fliehen vielmehr vor ihm, weil sie die Stimme des Fremden nicht kennen“ (Joh. 10,5), sagt Jesus von den Schafen Seiner Herde.
Trotz der schwierigen Situation müssen wir also wie frühere Generationen, die jeweils auch mit großen Schwierigkeiten ihrer Zeit zu kämpfen hatten, auch heute als lebendige Glieder der Kirche und des mystischen Leibes Christi Glaube, Hoffnung und Liebe in unseren Herzen erhalten und in der Welt zum Leuchten bringen!
Wo man sich Gott öffnet, ermöglicht das Licht des Heiligen Geistes trotz menschlicher Schwachheit erstaunliches Wirken, das die Güte, Wahrheit und Schönheit Gottes in unserer Welt erstrahlen lässt. Was für einen Heroismus hatten die Christen der ersten Jahrhunderte trotz aller Verfolgung an den Tag gelegt, auch wenn sie noch keine so schönen Kirchen besaßen und in vielen Gegenden vielleicht auch nur als kleines Grüppchen in Erscheinung treten konnten! Was war es für eine Herausforderung, als sich die Christen später, nach der allgemeinen Zulassung des Glaubens im Römischen Reich (313), plötzlich dem Auftreten verschiedener Irrlehrer entgegen stellen mussten, welche die Kirche und ihre Einheit zutiefst bedrohten! Und wie vieles haben die Gläubigen danach geleistet, die sich dem Untergang des weströmischen Reichs (476) und den kriegerischen Einfällen germanischer Stämme gegenüber gestellt sahen, welche das Christentum noch nicht oder nur in arianischer Verfälschung kannten und angenommen hatten!
In all diesen Zerstörungen und Umwälzungen hatte es immer Menschen und Heilige gegeben, die das Licht, das uns Jesus Christus gebracht hat, gegen die Bedrohung der Finsternis verteidigten und am Leben erhielten und so nach jedem Rückschlag einen Neubeginn in der Kraft des Heiligen Geistes wagten und anstießen, der in der Bemühung nachfolgender Generationen wieder Blüten ungeahnten kulturellen, aber auch religiösen Reichtums ermöglichte, den wir heute noch bestaunen!
Vieles in der Menschheitsgeschichte konnte erst in Jahrhunderte langer Mühe in die rechte, gottgewollte Ordnung gebracht werden, politisch, wirtschaftlich und religiös. Noch heute bauen wir auf den Fundamenten geistlicher und gesellschaftlicher Bemühung, die viele Generationen vor uns in der christlichen Liebe zu Gott und zum Nächsten gelegt haben. Das so genannte Mittelalter (etwa von 500 bis 1500), das an Komfort vieles noch nicht besaß, worauf nachfolgende Generationen stolz waren, das aber – trotz aller menschlichen Schwäche auch damals – wie wir gesehen haben, keineswegs pauschal als „finster“ bezeichnet werden kann, sondern viel Licht, Glaube und Liebe, aber auch viele neue Erkenntnisse vorweisen kann, war so eine Zeit geistlicher Orientierung und Vorbereitung auf das höchste Ziel des Menschen, nämlich auf Gott hin. Aber auch die Generationen danach erlebten in einer Zeit des Abfalls, der unter dem Vorwand einer „Reformation“ begonnen hat (1517), eine Herausforderung des drohenden Niedergangs, dem sich aber viele in der Kraft des Heiligen Geistes entgegenstellten, der so in den Herzen der Menschen und Völker wieder neue Früchte der Gottes- und Nächstenliebe hervorbringen konnte, so dass auch die Neuzeit eine Zeit vieler und großer Heiliger geworden ist.
Heute können wir mit den beschränkten Mitteln eines kleinen Restes von Christen inmitten einer beinahe wieder heidnisch gewordenen Umgebung praktisch keine Dome wie früher mehr errichten. Aber das ist auch nicht unsere vordringlichste Aufgabe. Wir wissen, dass es bei Gott weniger um die Gebäude aus Stein, sondern vor allem darum geht, dass wir unsere Herzen zu Tempeln des Heiligen Geistes werden lassen, indem wir sie Seiner Gnade öffnen! Das war schon im Alten Testament so, erst recht sollen wir im Neuen Testament daran denken! Wie uns der heilige Apostel Petrus auch klar sagt: „Lasst euch als lebendige Steine zu einem geistigen Tempel aufbauen, zu einem heiligen Priestertum, um geistige Opfer darzubringen, die durch Jesus Christus Gott wohlgefällig sind“ (1Petr.2,5)!
Erst wenn wir uns innerlich umgestalten lassen, werden wir auch äußerlich Frucht bringen, geistige Opfer, die Gott wohlgefällig sind! Von dieser innerlichen und übernatürlichen Ausrichtung zeugen auch die Kirchen, welche die Menschen bauen.
Vom Bau der Kathedrale von Chartres berichten zeitgenössische Quellen, wie er auch von einer allgemeinen sittlichen Bemühung um Heiligung getragen war, wie Stadt und Umland sich gemeinsam bemühten, die Arbeiter mit Speis und Trank zu versorgen, wie hoch und niedrig, reich und arm freiwillig und gern dabei geholfen haben, das Baumaterial auf Karren herbeizubringen, wie Feindschaften beigelegt wurden, so dass die Arbeit selbst in vollkommener Disziplin und bemerkenswerter Stille vonstatten gehen konnte.
Und so erst wurden Kathedralen wie jene in Chartres zu wahren Zeugnissen der Schönheit des christlichen Glaubens, für viele Jahrhunderte unerreichbar in ihrer Majestät und Größe, die noch heute als christliche Erkennungszeichen einer Stadt oft schon aus großer Entfernung sichtbar geblieben sind. Die Baumeister damals konnten noch nicht all jene Berechnungen anstellen wie wir heute, so mancher soll nicht einmal des Schreibens kundig gewesen sein. Aber weil der Blick der Herzen nach oben gerichtet war, wurde die Art des Bauens immer kühner, immer durchdachter, immer gewaltiger. Statt der Wände blieben bei manchen gotischen Kirchen nur noch ein paar Säulen, vereint zu einem Gerippe, der Rest wurde mit Fenstern gefüllt, bunt bemalt, welche die Herrlichkeit des Himmels gebrochen im Licht der Sonne hier auf Erden erahnen lassen sollten.
Auch unsere Zeit ist nicht frei von dieser Sehnsucht der Herzen nach dem Licht des Heiligen Geistes, gerade die Gefahr zunehmender Finsternis lässt viele Menschen auch wieder nach der Wahrheit fragen und suchen, nach Sinn, Halt und Orientierung, nach Erfüllung und wahrhafter Erleuchtung! Wir dürfen uns nicht täuschen: Wie jede Zeit ist auch unsere Zeit noch eine Zeit der Gnade, die Gott gerade dort überreich austeilt und anbietet, wo die Finsternis zu triumphieren scheint Natürlich sind es von allen immer nur wenige, die das Gnadenangebot aus der gütigen Hand Gottes annehmen und dann auch konsequent ihr Leben an der Liebe Gottes ausrichten. Aber die Kirche ist immer nur durch diese Bekehrung und Bemühung von Einzelnen gewachsen, welche die Liebe Gottes in der Welt bewahren und bezeugen!
Die Türme der großen und kleinen Gotteshäuser vergangener Jahrhunderte sind Symbole, die uns noch oben weisen. Natürlich genügen aber Türme allein nicht, um den Menschen den Weg zum Himmel zu zeigen! Jedoch ein heiligmäßiges Leben aus der Kraft der Wahrheit wird über kurz oder lang für Fernstehende, aber auch für uns selbst, eine Bestätigung der Wahrheit des Evangeliums und ein Wegweiser zu Gott und zu Seiner Liebe werden. Auch wenn uns ein solches Leben aus der Wahrheit nicht immer auf Anhieb gelingt, Gott kann selbst aus Trümmern noch Großes erbauen und inmitten von scheinbarem Chaos noch Wertvolles finden lassen. Die Geschichte des Christentums selbst bestätigt dies.
Wenn wir das geistliche und geistige Ringen gegen die Mächte dieser Welt im Vertrauen auf Gottes Hilfe und aus Liebe zu Ihm auf uns nehmen, dann kann das Reich Gottes auch in unserer Zeit vor den Augen der Welt erscheinen. Es liegt im Ratschluss Gottes, dass jedes Kreuz, wenn es aus Liebe zu Ihm getragen wird, auch eine Quelle reichen Segens sein soll, und jeder Segen und jede Gnade hier auf Erden auch mit einem Kreuz verbunden bleibt, das uns mit der Liebe Christi vereinigt. Alles heilige Wachsen auf Erden ist nur möglich in Vereinigung mit der Liebe Christi am Kreuz. Auch die großartigen Kirchen vergangener Zeiten, das darf man nicht vergessen, kann man nicht verstehen ohne die Liebe der Menschen zu ihrem gekreuzigten Heiland. Oft sind gerade die schönsten Kirchen nur ein Ergebnis vielfältiger Rückschläge und Kirchenzerstörungen durch Brände, Kriege oder andere Missgeschicke, die sich in früheren Zeiten in wenigen Generationen immer wieder ereigneten, wie die alten Chroniken berichten, die aber die Liebe in den Herzen der Menschen nicht besiegen konnten.
Und so hat auch in Chartres ein zerstörerisches Feuer in der Nacht vom 10. auf den 11. Juni 1194 den Neubau der Kathedrale, so wie wir sie heute kennen, veranlasst. Erst 1134 hatte eine Feuersbrunst die Vorgängerkirche teilweise zerstört, die dann vergrößert wieder aufgebaut wurde. Die Menschen fanden in Glaube und Gebet die Kraft, aus Trümmern immer wieder Neues und noch Schöneres zu bauen, weil im eigenen Herzen das Feuer der Liebe loderte. Das ließ sie für Gott immer das Wertvollste und Schönste finden und schaffen, hat Geist und Herz, Natur und Übernatur zusammengebracht und so auch alle menschliche Kunst zu immer größerer Vollkommenheit geführt.
Bei dem letzten Brand nun aber schien in Chartres zunächst alle Hoffnung dahin, weil selbst die wertvolle Marien-Reliquie, die Karl der Kahle 876 der Kirche dort überlassen hatte, ein „Gewand“ Mariens, die sogenannte Sancta Camisia, scheinbar den Flammen zum Opfer gefallen war! Was für ein Schrecken! Die Menschen fragten sich bestürzt und traurig, warum wohl Maria ihnen diesen Schatz, durch den schon so manches Wunder geschehen war und der Chartres schon damals zu einem bekannten Wallfahrtsziel gemacht hatte, genommen haben könnte.
Doch nach zwei oder drei Tagen fand man plötzlich, eingeschlossen in der Krypta mitten unter den Trümmern der zerstörten Kirche, zur großen Überraschung einige Priester, welche die Reliquie beim Ausbruch des Brandes gerade noch in die Lubinuskrypta bringen und dann die Falltüre über sich hatten schließen können! Und dann hatten sie in diesem selbst erwählten „Kerker“ so lange gewartet und gebetet, bis die Türe wieder geöffnet werden konnte! Welche Freude war das nun nach der großen Traurigkeit, welche die Menschen in den ersten Tagen befallen hatte! Diese dankbare Freude veranlasste und förderte wohl auch den schnellen Wideraufbau der Kathedrale. Welcher Ort mit 10.000 Einwohnern – größer waren Chartres und die meisten anderen Städte damals nicht, die zur Ehre Gottes oft gewaltige Kathedralen bauten! – würde heute nach einer Katastrophe ein solches Bauwerk erwägen und planen, geschweige denn in Angriff nehmen, selbst wenn er nur aus gläubigen Katholiken bestünde! Und das, obwohl vieles für uns heute technisch wie finanziell viel einfacher wäre!
Jenes hoch verehrte Stück „Gewand“ Mariens wurde in Chartres seit dem 10. Jahrhundert in einem Goldschmiede-Schrein aufbewahrt, konnte also selbst nicht betrachtet werden. Erst am 13. März 1712 wurde der Schrein schließlich - vorsichtshalber unter Ausschluss der Öffentlichkeit - wieder geöffnet, um zu sehen, was aus dem Inhalt wohl geworden war. Mit Überraschung stellte man fest, dass das Textilstück keineswegs verrottet oder mitgenommen und auch nicht ein Gewand oder „Hemd“ war, wie man es sich vorgestellt hatte, sondern ein 5,35 m langer, ungenähter und unverzierter Schleier aus Seide, eingewickelt in eine Art Schärpe, zusammen mit einem lateinischen Manuskript des Johannesevangeliums und einem Ledergürtel aus dem Besitz des heiligen Bischofs Lubinus von Chartres (544 - 556). Verwechslungen lateinischer, vulgärlateinischer und französischer Bezeichnungen in der Überlieferung und in den Dokumenten hatten wohl zur Vorstellung von einem „Hemd“ geführt.
In der Französischen Revolution wurde der Schrein dann seiner wertvollen Verzierungen aus Edelstein und Edelmetallen beraubt, und nur Teile des Textilstückes, eines 2,12m x 46cm, ein anderes 26cm x 18 cm, konnten gerettet werden und sind seit Anfang des 19. Jahrhunderts wieder in der Kathedrale.
Der Seidenschleier samt der ihn ursprünglich umhüllenden Schärpe wurde 1927 von M. D’Hennezel, Konservator des Textilmuseums in Lyon, eingehend untersucht. Die „Schärpe“ (die Umhüllung) dürfte aus dem 8. oder 9. Jahrhundert stammen und in Syrien entstanden sein. Doch die eigentliche Seidentuch-Reliquie stammt aus einer viel älteren Zeit, in der Seide in Europa noch gar nicht erzeugt oder verarbeitet worden ist, die aber ungefähr in der Zeit um Christi Geburt in der griechisch-römischen Welt sehr gebräuchlich war. Nach heutigem Stand der Wissenschaft könnten im ersten Jahrhundert nach Christus Kopfschleier dieser Art in Palästina getragen worden sein. (vgl. Müller, Hans-Egon, Notre-Dame von Chartres: über Sinn und Geist gotischer Architektur, Selbstverlag, Bad Saarow 2003, S. 175 ff.).
Nicht jedes Detail einer Überlieferung kann manchmal nachgezeichnet oder nachgewiesen werden, aber in der Regel finden wissenschaftliche Untersuchungen im Laufe der Zeit immer mehr oft nur kleine, aber klare Hinweise, dass die Überlieferung nicht willkürlich erfunden wurde, sondern die angegebenen Zeiten, Orte und Personen mit wissenschaftlichen Methoden relativ stimmig bestätigt werden können.
Wie in allen katholischen Kirchen ist auch in der Kathedrale von Chartres, hier auch wegen ihrer besonderen Geschichte, die Verehrung der Gottesmutter deutlich sichtbar. Die Glasfenster der Kathedrale gehören zu den ältesten und am besten erhaltenen überhaupt. Eines der wiederum ältesten dieser Fenster im südlichen Chor-Umgang bekam vom Volk den Namen "Notre Dame de la Belle Verrière" – also „Unsere liebe Frau vom schönen Glasfenster“. Es zeigt die gekrönte Himmelskönigin, die Weisheit selbst (Sophia), mit der sie auch in den Lesungen der Liturgie in Verbindung gebracht wird, in einem königlichen Blau, von dem man nicht weiß, wie es hergestellt wurde und das bis heute nie mehr nachgemacht werden konnte: Sie blickt uns an, gütig lächelnd, wach und klar, den Heiligen Geist über ihrem Haupt und mit Jesus nicht als kleinem Kind, sondern als dem Weltenherrscher, dem Logos (Wort), aus dem alles geworden ist, auf dem Schoß, dem die Engel ringsum dienen und huldigen.
Das Bild erinnert uns daran: Maria ist uns mit Leib und Seele schon in den Himmel vorangegangen und herrscht nun als Königin des Himmels. Sie steht nicht vor ihrem Sohn, aber sie ist als Mensch ausgezeichnet, den Herrscher Himmels und der Erde getragen und als Mensch geboren zu haben! Sie wird in der Liturgie am Fest ihrer Unbefleckten Empfängnis (8. Dez.) durch die Lesung über die göttliche Weisheit im Ursprung der Schöpfung geehrt (Sir.24,9ff.), weil sie selbst als vollkommenstes Geschöpf im Plan der göttlichen Weisheit erscheint, uns aber als Gottesgebärerin auch die Weisheit ihres göttlichen Sohnes im Heiligen Geist erschließt.
Sie hat ihr Ziel und ihre Vollendung in der Herrlichkeit Gottes nun erreicht, ist uns aber dennoch nicht fern, denn sie hat die Schwierigkeiten, mit denen wir noch kämpfen, hier auf Erden selbst kennengelernt. Am Fest ihrer Himmelfahrt (15. August) wird sie in der Lesung mit Judith verglichen, die dem Feind des Volkes Gottes den Kopf abgeschlagen hat (Judith, 13,22-25). In neutestamentlicher Zeit ist hier der übernatürliche Kampf gemeint, der aber auch schon im Alten Testament angedeutet ist: Die Stelle „Sie wird dir (der Schlange, Satan) den Kopf zertreten!“ (Gen.3,15) wurde von den Vätern auf Maria bezogen. Sie ist uns von Jesus Christus zur Mutter gegeben worden, die uns nahe ist, besonders wenn der Kampf der Hölle am ärgsten zu toben scheint.
Viele Kirchengebäude geben Zeugnis von diesem Vertrauen, aber auch von der vielfältigen Hilfe Mariens in allen Nöten ihrer Kinder! Und so haben sich an vielen anderen Orten und zu allen Zeiten in allen großen Schwierigkeiten der Kirchengeschichte um Maria gesammelt und wie die Apostel nach der Himmelfahrt Christi mit ihr um das Kommen des Heiligen Geistes gebetet!
Sammeln auch wir uns in den Kämpfen unserer Zeit im Geiste um unsere Mutter, die Tochter Gottes des Vaters, die Mutter unseres Erlösers und die Braut des Heiligen Geistes! Sie wird uns nicht verlassen, sondern die Hilfe Gottes erflehen!
Möge sie auch uns helfen, das Herz immer mehr für das Wirken des Heiligen Geistes zu öffnen, damit wir fähig und würdig werden, Gott vollkommen zu dienen und so innerlich in unseren Herzen eine wahre Erneuerung der Kirche vorzubereiten, die dann auch äußerlich die Menschen anzieht und sie aus der Finsternis wieder zum Lichte Christi führt!
So werden auch wir in unserer Zeit wieder Dome bauen, ja noch mehr: nach Gottes Willen selbst zu Heiligtümern werden, in denen der Heilige Geist Sein übernatürliches Licht entzündet, dass es die Welt heilig und hell machen kann!
O Maria ohne Sünde empfangen, bitte für uns, die wir zu Dir unsere Zuflucht nehmen!

Thomas Ehrenberger

 

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